Kleine Schwester Catherine erzählt von ihrem Engagement mit obdachlosen Menschen:

« Wo werden die Armen schlafen? » Diesen Satz hat Gustavo Gutierrez, Theologe aus Peru, im Jahr 2000 als zentrale Herausforderung für die Christen zu Beginn des 3. Jahrtausends benannt. Das hatte mich damals sehr berührt und immer wieder schmerzlich in Frage gestellt.
Wenig später brach ich wieder nach Lateinamerika auf, wo ich vier Jahre lebte und arbeitete.

Als ich wieder nach Frankreich zurückkehrte, musste ich neu nach meinem Platz suchen, und die Vorsehung hat es ermöglicht, dass ich eine Arbeitsstelle in der Organisation „Den Gefangenen Befreiung“ fand – einer Organisation, die sich um Menschen kümmert, die auf der Straße oder von der Straße leben (Obdachlose, junge Migranten ohne festen Wohnsitz, Menschen, die von der Prostitution leben).

Berührungsangst

Für mich war das eine neue Welt, die ich erst einmal entdecken musste. Natürlich war ich schon zuvor im Kontakt mit Armen, auch mit sehr Armen, aber diese Form der Armut machte mir in gewisser Weise erst einmal Angst. Und doch hatte ich den Eindruck, dass mich Gott genau da erwartete, dass er mir darin etwas sagen wollte, und vielleicht könnte ich ja diesen Menschen entdecken helfen, wie sehr Gott sie liebt.

Die Arbeit in einer Organisation hat den Vorteil, dass man nie alleine ist, zumindest bei den ersten Begegnungen: Bei unseren „Rundgängen“ durch die Straßen – immer zu zweit, dieselben Personen, im selben Viertel, zur gleichen Zeit – begegnen wir den Wohnsitzlosen bei sich „zu Hause“, auf „ihrem Gebiet“ (ihrer Bank, ihrem Stück Gehweg, unter einer Brücke) und sie sind es, die uns bei sich aufnehmen und die ermöglichen (oder eben auch nicht), dass im Laufe der Begegnungen ein echtes Gespräch möglich wird. „Na, ihr Mädels, das ist ja nett, dass ihr bei mir vorbeischaut!“ sagte uns ein Mann, der uns „bei sich“ willkommen hieß. Ich dachte, dass mein Besuch auf der Straße Freude hervorrufen würde, doch eines Tages war der Mann, an dem wir vorbeikamen, gerade am Essen und sagte uns: „Nein, heute nicht, ich bin am Essen! Oder wollt ihr vielleicht beim Essen gestört werden?“ Er hatte Recht – und hat mich gelehrt, bei anderen Gelegenheiten aufmerksamer zu sein.

Überraschungsmomente

Einmal in der Woche sind alle zu uns in die Räume unserer Organisation zum „offenen Treff“ eingeladen – auch wenn manche nie kommen … Für manche sind diese Treffen ein wichtiger Orientierungspunkt, ein „Durchschnaufen“, eine Zeit der Begegnung mit den Menschen, die sie erwarten, aber auch mit jenen, die wie sie selbst von der Straße dazukommen. Oft ist es eine Zeit des Austauschs, der im Laufe der Wochen, der Monate, der Jahre in die Tiefe geht, in dem Maße wie das Vertrauen wächst und ermöglicht, wirklich gemeinsam ein Stück Weg zu gehen.
Wie viele Menschen, geprägt von sehr schmerzlichen Erfahrungen, finden das Lächeln wieder, wenn man ihnen wirklich zuhört! Was für eine Überraschung, wenn man bei einem innerlich gebrochenen Menschen, zutiefst geprägt von seinem rastlosen Herumirren, auf einmal eine außergewöhnliche Bildung und Kultur entdeckt!

Was für eine Freude, wenn wir einfach gemeinsam lachen können, wenn das Leben dieser Menschen ein bisschen leichter werden kann, wenn das „Herz“ eines Menschen zum Vorschein kommen kann und er nicht auf sein äußeres Erscheinungsbild reduziert wird, wenn ein Mensch in unserem Blick entdecken kann, dass er wichtig ist, dass sein Leben kostbar und wertvoll ist. Und so kann er vielleicht neu daran glauben, dass ein anderes Leben möglich ist. Ja, wie viele Menschen habe ich gesehen, die sich neu auf den Weg gemacht haben!

Und wie lang ist der Weg, wie viel Energie braucht es um durchzuhalten, wie viele ehrliche Unterstützung ist nötig – aber es ist möglich und so schön!

Dem Leben eine neue Richtung geben

Sich geschätzt wissen, wieder einen Sinn im Leben finden, sich ins Gesicht schauen können, und dann entscheiden können, sich neu auf den Weg zu machen: Alkohol oder Drogen aufzuhören, anfangen, sich wieder um sich selbst zu kümmern, sich ärztlich behandeln zu lassen, die Hilfe von SozialarbeiterInnen annehmen, und – nach und nach – wieder zu einem aufrechten Gang zurückfinden.

Natürlich gibt es viele, die wieder in ihr altes Leben zurückfallen: die nach einer Entziehungskur wieder mit Trinken beginnen; die eine nach langer Zeit gefundene Arbeitsstelle wieder aufgeben; oder jene, für die wir nach langer Suche eine Unterkunft gefunden haben, und die doch nach sechs, sieben Monate wieder zurückgehen auf die Straße. Und doch wissen wir, dass es möglich ist, ein neues Leben anzufangen, und dass man es gemeinsam schaffen kann!

Wie oft sind mir während dieser Begegnungen auf der Straße oder beim offenen Treff die Wort Jesu in den Sinn gekommen „Ich habe Hunger gehabt, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich habe Durst gehabt, und ihr habt mir zu trinken gegeben, ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen, nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben“. Einladung, den anderen anzunehmen, ihn zu unterstützen, sich mit ihm „verbünden“, damit er es schafft, wieder zu sich zu finden, zu dem, was er an Gutem in sich trägt und was ihn liebenswert macht.

Wo werden die Amen leben?

Und so wird dieser Satz „Wo werden die Armen schlafen“ geweitet zu einem „Wo werden sie leben? Mit was? Von was? Mit wem?“ Die Aufgabe ist enorm, schwer, und doch so notwendig! Sind wir nicht alle füreinander Schwestern und Brüder? Und mit Jesus, dem Auferstandenen, der Quelle neuen Lebens ist, wird vieles möglich…

Kleine Schwester Catherine