Unser Alltag, der aus der Arbeit, dem Gebet und verschiedenen ehrenamtlichen Tätigkeiten besteht, ist stark geprägt von unserem Wohnviertel: auch wenn wir keinesfalls einen jeden Bewohner, eine jede Bewohnerin unseres Hochhauses oder gar unseres Viertels kennen, so sind wir doch vielen bekannt.

Zahlreiche Beziehungen sind im Laufe der Zeit gewachsen, die uns in unserer freien Zeit zu Hause gut “beschäftigen”. Oft werden unsere Planungen vom alltäglichen Miteinander mit den Menschen durcheinander gebracht: im Dasein für sie, im Zuhören, im Teilen ihrer Freuden und Leiden.

Teilen von Freude, Leid und Ohnmacht

Manchmal ist es schwer, sich so ohnmächtig zu fühlen angesichts bestimmter Lebenssituationen; oft erfahren wir uns aber auch als Beschenkte in diesem ganz alltäglichen Miteinander. C. klingelt am häufigsten an unserer Wohnungstür, mehrmals täglich, wenn es ihr schlecht geht. Sie ist verheiratet und ihre Familie hat mit vielerlei Problemen zu kämpfen. In manchen Zeiten wird sie täglich mit einem neuen, oft schwerwiegenden Problem konfrontiert, und wir fragen uns, wie sie es schafft durchzuhalten. Sie kommt zu uns, um ihre Sorgen, ihre Ängste mit uns zu teilen, um eine Lösung zu suchen, um mit uns zu besprechen, was sie ihrem Mann, ihren Kindern sagen möchte, um bestärkt zu werden. Manchmal bittet sie auch um Hilfe in bürokratischen Angelegenheiten. Sie sagt uns: ‚Ich komme zu euch, um mein Herz zu erleichtern, das tut mir so gut.”

“Was hilft mir in meinem Leben voranzugehen?”

Einmal im Monat feiern wir Eucharistie bei uns in der Wohnung. Einige Nachbarn kommen, um mit uns diese Zeit des Gebetes und des Austausches zu teilen. Ich errinere mich an eine Messe, in der in den Lesungstexten vom Unterwegssein, vom Weg, von Begegnung die Rede war. Der Priester fragte uns: “Was hilft mir, in meinem Leben voranzugehen?” In den Antworten drückten sich ganz unterschiedliche Erfahrungen aus:

  • “Heute bin ich zu meinem Sohn gegangen. Gemeinsam mit meinem Ehemann haben wir zu Fuss die Stadt durchquert, um ihn zu besuchen. Er ist seit langem nicht mehr zu uns gekommen; und das hat mir sehr wehgetan. So haben wir von uns aus den ersten Schritt getan, um ihn zu treffen.”
  • “Es ist Gott der mir Kraft gibt, weiterzugehen. Ohne ihn wäre das Leben unmöglich.”
  • “Ich gehe nicht mehr voran. Seit dem Tod meines Mannes gehe ich nur noch rückwärts. Ich weiß nicht, was los ist….”
  • “Auf meinem Weg hilft mir die Mitgliedschaft in der Bewegung ATD Quart Monde (ein Zusammenschluss sozial benachteiligter Menschen).

Die Menschen teilen ihren Glauben, so wie sie ihn inmitten der täglichen Probleme und Schwierigkeiten in unserem Hochhaus, in unserem Wohnviertel leben – und Gott weiß, was sich hier alles abspielt… Ich bin tief berührt von der schlichten und diskreten Gegenwart Christi inmitten der “Seinen”, in den Stürmen ihres Lebens, um ihnen Kraft, Mut und Hoffnung zu geben. Und dennoch nehmen dies die meisten Menschen nicht wahr.”

Ein Sprachkurs als Schritt zu einem Leben in Würde

Durch meine Arbeit als Französischlehrerin und in Alphabetisierungskursen mit ausländischen Erwachsenen im Sozialzentrum unseres Viertels, komme ich mit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft in Kontakt: aus der Türkei, Algerien, Marokko, Vietnam, Mazedonien, Bosnien, Senegal. Oft bewundere ich diese Menschen: Sie haben den Mut, sich ans Lesen- und Schreibenlernen zu machen, nachdem sie als Kinder nicht das Glück hatten, zur Schule gehen zu können. Welche Freude zu sehen, wie die ein oder andere das erste Mal ein Wort lesen kann: “A-NA-NAS. Wow!” Welche beachtlichen Fortschritte machen einige von ihnen, die äusserst motiviert auch zu Hause studieren, mit Hilfe eines ihrer Kinder. Wie stolz sind sie, wenn sie erstmals fehlerfrei die Monatsnamen schreiben oder selbständig beim Arbeitsamt anrufen können.

Die Teilnahme an den Kursen ermöglicht der ein oder anderen, aus dem Haus zu kommen, das Ghetto der Familie oder der je eigenen Nationalität zu verlassen.

Sie sind gezwungen, nicht immer um die gleichen Gedanken zu kreisen, so um den Tod von ihren zwei an Muskelschwund verstorbenen Kindern. Die Kurse bieten Gelegenheit, andere Menschen zu treffen, einen Schritt hin zur Eingliederung in die französische Gesellschaft zu tun.
Ich zögere daher nicht, auch einen Besuch in der örtlichen Grundschule vorzuschlagen oder uns zum Kaffeetrinken mit selbst gebackenem Kuchen zu treffen. Besonders freuen mich die Beziehungen, die mit den Familien wachsen.

Brücke zwischen den Welten

Es ist nicht selten, dass mich eines der Kinder meiner “Schülerinnen” grüsst, glücklich die “Lehrerin ihrer Mutter” zu treffen. Wie wichtig ist dies: es sind kleine Bausteine, die helfen, sich selbst und einander wertzuschätzen; es sind kleine Brücken zwischen den so verschiedenen “Welten”, die sich kaum berühren. So sagte mir eine Weißrussin, dass ich gemeinsam mit einer anderen Frau aus dem Sozialzentrum die einzige Französin sei, die sie kenne. Mögen wir durch unsere so schlichten Dienste etwas von dem zärtlichen und freundschaftlichen Blick aufscheinen lassen, mit dem Gott einen jeden, eine jede von uns anblickt, und am Wachsen des Reiches Gottes mitwirken, wo Christus ja längst am Werk ist…

Kleine Schwestern aus Mulhouse